Filip Lech: Sie wurden 12 Jahre nach Kriegsende geboren. Was hat das Ihrer Meinung nach für eine Auswirkung? Wann haben Sie erfahren, was im Krieg geschah? Ich bin 46 Jahre nach Ende des Krieges geboren; trotzdem fühlen sich diese Ereignisse immer noch sehr lebendig für mich an.
Bernhard Lang: Meine Eltern haben mir sehr früh vom Krieg und den Vorkriegsjahren erzählt. Wir haben in den Bunkern mit Munition gespielt, der Krieg war in unserer Jugend noch durchaus präsent. Über die wirklich schrecklichen Dinge haben meine Eltern allerdings erst viel später gesprochen. Mein Großvater war Mitglied der Widerstandsbewegung gegen Hitler innerhalb der österreichischen Armee. Mein Vater versuchte, von der HJ zu desertieren und wurde dafür in Graz gefoltert. Das hat er mir erst viel, viel später erzählt – Jahrzehnte später.
Meine Eltern haben all dies als schreckliche Zeit beschrieben; sie hatten große Angst vor dem Krieg. Meine Mutter lebte als junge Frau in der russischen Besatzungszone – und, wie Sie sich vorstellen können, sind während der Besatzung schlimme Dinge passiert. Meine Mutter hat im Krieg als Telefonistin gearbeitet. Sie war 17 Jahre alt, als sie eines Morgens einen Wagen voller Leichen vor ihrem Büro entdeckte. Ein SS-Mann drohte ihr, dass sie auch in dem Wagen landen würde, wenn sie zugab, etwas gesehen zu haben. Wie Sie sehen – eine Menge Geschichten.
Wir waren die Kriegsgeneration. Ich denke, das trifft auch auf den Ursprung eines großen Teils der Neuen Musik als einem Nachkriegs-Phänomen zu. Als ich 1989 nach Polen reiste, empfand ich die Neue Musik dort nach wie vor als Teil des Widerstands, als ein Zeichen des Widerstands innerhalb der polnischen Gesellschaft. Ich denke, wir waren alle mehr oder weniger Kinder des Krieges. Das gilt für alle Komponisten – Helmut Lachenmann, zum Beispiel, wäre nicht derjenige, der er ist, ohne den Zweiten Weltkrieg. Auch jene auf der Flucht – Komponisten wie György Ligeti – sie haben sich in Relation zu den Auswirkungen des Krieges und zu absoluten Regimes definiert. Sie wurden davon quasi gezeichnet.
Andererseits war es auch die Reaktion auf den Vietnam-Krieg, der meine Jugend sehr geprägt hat. Die Proteste der Hippie-Bewegung gegen den Vietnam-Krieg – man muss sich das vorstellen: wir gingen in Linz auf die Straße, um gegen den Vietnam-Krieg zu demonstrieren, als Jugendliche! Das würde heute niemand machen. Diese Friedensbewegung, die von den USA ausging, hat meine Jugend stark beeinflusst – und wie ich meine eigene Kultur in diesen Jahren definierte.
FL: Waren Sie vor 1989 schon einmal hinter dem Eisernen Vorhang?
BL: Nein, ich glaube nicht. 1989 war das erste Mal. Ich war damals 32; davor bin ich hauptsächlich in den Orient gereist – in arabische Länder, in die Türkei. Dann begann ich, regelmäßig in den Osten zu fahren – von uns aus gesehen, war der Eiserne Vorhang eine gigantische Mauer, völlig intransparent. Nach 1989 begann ich, in alle diese Länder zu reisen. 1989 war es in Polen schrecklich deprimierend. Es herrschte Nahrungsmittel-Knappheit, ich erinnere mich an Menschen, die sich in langen Schlangen um Essen anstellten. Mein Freund und ich wachten um 09:00 in der Früh auf und versuchten, irgendwo zu frühstücken – aber da gab es schon nichts mehr. Wir waren zu spät dran – die Leute hatten sich bereits ab 5 Uhr Früh angestellt. Schlimme Zeiten.
Dasselbe gilt für Russland. Russland wurde zu dieser Zeit von den Oligarchen ausverkauft – und von diesen schurkischen westlichen Geschäftsleuten, die alles dort auf- und verkauften. Auch die Mafia wurde aktiv. Ich bin in diesen Jahren zwei Mal in Russland gewesen – auch in Estland, in der Slowakei, in Tschechien – ich begann, in alle diese Länder zu reisen und eine starke Beziehung zu ihnen aufzubauen.
FL: Können Sie uns noch etwas aus dieser Zeit erzählen? Wo waren Sie in Polen?
BL: In Warschau und Lublin, wo ich Majdanek besuchte. Ich hatte mich davor aus persönlichen Gründen nicht getraut, Konzentrationslager zu besuchen. Meine Tante Grete war schizophren und sollte ins Lager Hartheim kommen. Mein Großvater mütterlicherseits kaufte sie vom Gauleiter frei – mit einem halben Schwein – und rettete sie so. Jeder hat gewusst, was dort vor sich ging, dass die Menschen umgebracht wurden. Das war bekannt.
Ich habe dann das Vernichtungslager Majdanek in Lublin besucht; ich war mit dem Komponisten Wolfgang Liebhart unterwegs. Ein weiterer Komponist, Dieter Kaufmann, suchte nach Spuren seines Vaters, der als Soldat dort gewesen war. Ich hatte mit dem Lubliner Orchester ein Werk aufgenommen; nach diesem Besuch habe ich das Orchesterstück dekonstruiert und ein elektronisches Stück draus gemacht; es hieß A Roomfull of Shoes, denn ich sah dort einen Raum voll Kinderschuhe. Mein Vater hat Dinge aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Dachboden aufbewahrt – ich kannte daher diesen Geruch von verrottendem Leder, es war tatsächlich 40 Jahre alt. Ich gestehe, ich hatte danach eine Art Zusammenbruch, mir wurde übel, schwindelig.
FL: Wann haben Sie zum ersten Mal vom Aufstand im Ghetto (1943) erfahren?
BL: Ich hatte davor eine eher allgemeine Kenntnis, wusste aber nichts Genaues. Peter Paul Kainrath, der Intendant des Klangforum Wien, hatte mich eingeladen, mich mit dem Ringelblum-Archiv auseinanderzusetzen. So begann ich wieder, die Geschichte zu studieren. Als ich 1989 zum ersten Mal nach Warschau kam, hingen in den Kirchen keine Heiligenbilder, sondern Bilder des zerstörten Warschau. Warschau wurde im Krieg dem Erdboden gleichgemacht; es war komplett zerstört. Genaueres über den Aufstand im Ghetto habe ich aber erst über das Studium von übersetzten Passagen aus dem Ringelblum-Archiv erfahren; daraufhin habe ich alles gelesen: persönliche Dokumente und den generellen Geschichts-Hintergrund. Aber am beeindruckendsten waren die sehr persönlichen Aussagen der Menschen, die da eingesperrt waren; die Art der psychologischen Kriegsführung der Deutschen gegen diese Menschen. Während ich das alles las und das Stück schrieb, begann der Ukraine-Krieg. Genau an meinem Geburtstag – ich bin am 24. Februar geboren; der schlimmste Geburtstag meines Lebens, wie Sie sich vorstellen können. Das hat mich daraufhin in eine tiefe Depression gestürzt, ich konnte nicht weiterarbeiten, da die Texte des Ringelblum-Archivs eine derart ähnliche Situation beschreiben. Natürlich ist die Situation 2023 anders, aber es werden dort Menschen in Warschau beschrieben, die auch nicht geglaubt hätten, dass es je so weit kommen könnte.
Es heißt dort: Sie werden nicht kommen, sie werden nicht kommen – man hat es nicht geglaubt, bis zum letzten Augenblick, als die Angriffe begannen. Es war für mich so deprimierend, dass das alles nicht der Vergangenheit angehört, sondern immer und immer wiederkehrt. Eine Zeitlang konnte ich an dem Stück nicht weiterarbeiten. Ich habe mich dann aufgerafft; ich sagte mir, dass ich es fertigmachen muss – das ist auch eine Art Therapie. Die Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv lassen einen an der Menschheit verzweifeln; was Menschen einander antun können – es ist der schlimmste Aspekt der Menschheit überhaupt. Der Mann – wir kennen seinen Namen nicht, ich zitiere aus dem Ringelblum-Archiv – zerbricht an der Situation. Er wird von dem allen vernichtet und dadurch am Ende zu einem Menschenhasser. Er sagt: „alle Menschen sind schlecht; alles, was ich will, ist: Deutsche erschießen; es gibt keine Menschlichkeit mehr.“ Das macht einen extrem pessimistisch. Aber andererseits wird einem klar, dass das System darauf ausgerichtet ist, uns so werden zu lassen. Man darf sich nicht ins System hineinziehen lassen, in seinen Zynismus. Ich denke, es ist gut, ein Kunstwerk zu schaffen, dass auf derartigen Dingen basiert – speziell in der jetzigen Situation. Es braucht keinen weiteren Kommentar. Das ist es, was ich an den Texten mag – ich verwende jetzt immer häufiger dokumentarische Texte, denn die lügen nicht. Das sind bloß Tagebücher.
Nur ein Teil dieser vielen Bücher ist übersetzt; ich glaube, es sind bis jetzt drei Bände. Es ist unfassbar. Speziell der Teil mit dem Titel „Leben im Ghetto“, das die Erniedrigung dieser Menschen beschreibt. Sie wurden Tag für Tag korrumpiert – durch Hunger, die Notwendigkeit, zu überleben – es machte diese Menschen unmenschlich. Das ist eine Technik, Menschen in Tiere zu verwandeln.
FL: Wie kann Musik etwas über Geschichte erzählen?
BL: Es gibt eine Art von Musik, die sowohl aus verbalen als auch non-verbalen Zeichensystemen besteht. Sobald Sprache zur Musik kommt, kann man natürlich politische Aussagen treffen; das ist klar. Aber das Gefährliche – aber auch Machtvolle – an der Musik ist ihre non-verbale Komponente, wenn man Emotionen vermittelt, Bewusstsein verändert oder herstellt. Ich denke, dieser Bewusstseinswandel ist eine der interessantesten Aufgaben der Ästhetik, der Kunst im Allgemeinen, wie Foucault schreibt. Die Perspektive, das Bewusstsein zu verändern – das vermag die Macht der Musik. Man kann das am Beispiel des Vietnamkrieges sehen. Ich denke, ein Bob Dylan Song hat mehr dazu beigetragen, uns von der Notwendigkeit einer friedlichen Haltung zu überzeugen, als hunderte Konferenzen von Politikern. Musik als der Sprache der Seele gelingt es, den Menschen die Botschaft des Friedens und des Verständnisses näherzubringen; wir haben es in den 1960er Jahren gesehen – es hat funktioniert.
Andererseits wissen wir, dass das Dritte Reich Musik sehr schlau eingesetzt hat, um die Menschen zum Krieg zu motivieren. Ich sehe in der gesamten Konstruktion des Dritten Reiches eine große Inszenierung der Götterdämmerung – eine große Wagner-Oper mit verbrannter Erde und den Göttern, die vom Himmel fallen. Es funktioniert in beide Richtungen. Ich denke, die Intention ist das Wesentliche. Die Intention dieses Stücks ist eindeutig, das Bewusstsein zu erhellen – das ist keineswegs überholt, sondern bloß in Vergessenheit geraten. In meiner Jugend wurde ich Zeuge, wie Menschen gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und ich sah, wie sie Erfolg hatten – der Krieg wurde beendet. Die Haltung der Amerikaner gegenüber dem Krieg veränderte sich – und das geschah auch in Europa, mit 5-6 Jahren Verspätung. Und dann haben die Medien und die Politiker versucht, den Krieg wieder salonfähig zu machen. Daran haben sie jahrzehntelang gearbeitet – und es ist ihnen gelungen. Heute stehen die Menschen Kriegssituationen nicht mehr so kritisch gegenüber.
Hier geht es um Erinnerung, dass wir nicht vergessen, was geschah – auf diesem Boden, auf dem wir jetzt stehen. Was die Menschen verändert und zu Monstern gemacht hat – eine Gesellschaft erschuf, in der man nichts als weg will, weg von diesen Leuten. Ich glaube, diese Erkenntnis, diese Intention ist wichtiger denn je. Ich denke, die Menschen haben sich so an das Leben in einer Kriegssituation gewöhnt, dass sie sie in gewisser Weise akzeptieren. Und die Politiker machen einfach Geschäfte mit Waffen. In was für Zeiten leben wir? Sind das die Vorbereitungen für den Dritten Weltkrieg?
Ich denke, der Krieg hat unsere Gesellschaft bereits erreicht. Innerhalb unserer Gesellschaft existiert bereits diese steigende Spannung unter Menschen, die in Wirklichkeit reich sind, ausreichend zu essen haben – aber gegenseitige Aggressionen entwickeln. Es war während der Corona-Pandemie sehr deutlich zu sehen, wie Menschen sich verhalten. Ich muss gestehen, ich habe mich vor meinen Nachbarn gefürchtet. Durch Zufall bin ich in Wien in eine Anti-Corona-Demo geraten. Ich habe diese Leute für absolut gefährlich gehalten. Ich hätte nie gedacht, so etwas erleben zu müssen.
Es hat mich an Geschichten meiner Mutter erinnert, als Hitler in Österreich einmarschierte, dass die Menschen auf der Straße darauf geradezu hysterisch reagierten. Es geht um Erinnerung. Wir sollten einerseits die Dinge nie vergessen, die im Ringelblum-Archiv beschrieben werden; wie schnell Menschen sich in einer monströsen Situation verändern. Und andererseits sollten wir die Rückkehr eines solchen Systems bekämpfen. Ich muss gestehen, in den 1980er Jahren war ich optimistischer, dass wir uns in eine offene Gesellschaft bewegen würden, in der alles möglich ist – und Nazis nurmehr in Steven Spielberg-Filmen vorkommen; nicht in der Realität.
Das hat sich in den 2000er Jahren drastisch geändert. Es hat natürlich schon früher begonnen, aber der radikale Wandel mit dem Wiederauftauchen rechter Politik in Europa, mit diesen Berlusconis, Orbans – all diesen Burschen, die man ins Europäische Parlament gelassen hat – ich denke, da hat das System sich gewandelt. So kann Mussolinis Ur-Enkelin plötzlich aktiv werden. Hitler hatte glücklicherweise keine Kinder, aber seine Kinder im Geiste sind immer noch hier.
FL: Gibt es Kompositionen mit Bezug zu geschichtlichen Ereignissen, die Sie besonders schätzen?
BL: Absolut. Ein Überlebender aus Warschau von Arnold Schönberg; Threnody to the Victims of Hiroshima von Krzysztof Penderecki und vielleicht auch Henryk Mikolaj Góreckis 3. Symphonie; Different Trains von Steve Reich. Ich denke, der Großteil von Lachenmanns Werk ist politisch – einiges von Peter Ablinger; einige der „Voices and Piano“-Stücke sind absolut starke politische Statements. Das sind die, die mir sofort einfallen.
Ich war sehr beeindruckt davon, als Dobrowolski in den 1980er Jahren uns in Graz Pendereckis Threnody zu Gehör brachte. Das war eine so starke politische Botschaft – ohne ein Wort zu sagen. Es ist so stark, dass man genau weiß, was die Musik uns da erzählt. Ganz ohne Text.
FL: Meine letzte Frage ist ein bisschen kompliziert: Was bedeutet es für Sie, Komponist zu sein?
BL: Die Frage mag einfach sein, aber sie ist definitiv nicht leicht zu beantworten. Ich würde sagen – so, wie ich mich selbst verstehe, bin ich ein Arbeiter, ein arbeitender Mensch, im wörtlichen Sinn, da meine Arbeit „handgemacht“ ist, ich sie selbst vertreibe und in der Kultur-Industrie arbeite, sozusagen. Ich sehe mich als ein Ein-Mann-Betrieb, der sich um sämtliche Aspekte der Arbeit und der Produktion kümmert. Für mich ist das Wunderbare am Kompositions-Prozess, dass das Produkt nicht entfremdet wird, sondern dass man dabei bleibt und sich mit ihm identifiziert. Das ist sicher ein bisschen idealistisch gesehen, denn der Kapitalismus sorgt dafür, dass man auf die eine oder andere Weise ausgenützt wird; aber so möchte ich mich gern definieren. Als ein arbeitender Mensch. Arbeiter, zu Deutsch.
FL: Robotnik auf Polnisch.
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Dieses Interview ist eine Übersetzung des englischen Originals, das auf der Website des Adam Mickiewicz Instituts veröffentlicht wurde.
Foto © Harald Hoffmann